Kreditmechanik des Sparparadoxons

In manch orthodoxen Lehren wird Sparen und die von den Sparern den Kreditinstituten zur Verfügung gestellte Höhe der Spareinlagen als notwendige Voraussetzung für die Höhe der Kreditvergabemöglichkeit (durch die Kreditinstitute) erklärt. Davon wurde bis in die frühen 1930er grundsätzlich ausgegangen. Auch der zu den Verhandlungen des Young-Planes (der die deutschen Reparationszahlungen ab 1929/30 neu regelte) gebildete Ausschuss empfahl noch 1930 das Sparen zu gesteigerter Kapitalbildung.1
 
Freilich können (aufsichtsrechtlich) nur solvente Kreditinstitute Kredit gewähren. Vermehrte Einlagenbildung erhöht jedoch nicht deren Liquidität, sondern verringert diese sogar: Verzicht an den Ausgaben erhöht den gesamtwirtschaftlichen Kreditbedarf (oder verringert die gesamtwirtschaftlichen Einnahmen) und reduziert tendenziell die Möglichkeit der Bankschuldner ihre Rückzahlungen (in voller Höhe) zu leisten, womit eine Erhöhung der Liquidität der Kreditinstitute (aufgrund der teilweise unterbleibenden Bedienung von Kreditschulden) blockiert wird. Fallen Kreditforderungen (Vermögensposition in der jeweiligen Bankbilanz) an die Bankschuldner sogar gänzlich aus, schmälert dies die Höhe des Eigenkapitals der Kreditinstitute (reduziert deren Solvenz sowie Liquidität).

 

Mehrfach weist Wilhelm Lautenbach darauf hin, dass hinsichtlich Sparen generell untersucht werden muss, wie sich die gesamtwirtschaftliche Liquidität verhält, wenn die Sparer nicht gespart, sondern ihre Einnahmen unvermindert an die Realwirtschaft ausgegeben hätten:

 

„Die Frage ist vielmehr, ob die Liquidität der Banken sich bessert, wenn Einkommensbezieher sparen und nun - meinetwegen sofort - Effekten kaufen. Um das zu entscheiden, muß man prüfen, wie die Liquidität und das Kreditvolumen sich stellen, wenn der Einkommensbezieher nicht gespart, sondern alles ausgegeben hätte. Dann wären die Beträge Unternehmern als Einkommen zugeflossen! Es wären entweder Unternehmerdebitoren entsprechend vermindert oder Unternehmerkreditoren erhöht worden, der Kreditbedarf der Unternehmer um den gleichen Betrag geringer gewesen […].“ (Wilhelm Lautenbach: Zins, Kredit und Produktion, S. 189.)

 

Das Sparen an den Ausgaben verschlechtert also nicht nur die Solvenz der realwirtschaftlichen Unternehmungen,2 sondern tendenziell auch die Höhe und Fähigkeit der Banken zu Kreditgewährungen.3

 

Im (deflationären) Extremfall bringt übermäßiges Sparen die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht - reduziert (aufgrund der gesamtsektoral negativen Nettokreditaufnahme) die sogenannte (sowie nachfragende) Geldmenge bei (höherem Einnahmeausfall als abbaubaren Kosten) steigendem Kreditbedarf.

 

1 Hans Gestrich: Der Youngplan. Leipzig 1930, S. 24: „Der Ausschuß hofft, daß weitere Steuererleichterungen und eine endgültige Reparationsregelung sich als ein starker Anreiz zur Steigerung der Spartätigkeit erweisen und damit wesentlich die für Deutschland wesentliche Kapitalbildung fördern werden.“

2 Wilhelm Lautenbach: Kreditschrumpfung und Kreditausweitung (PDF; 98,4 KB). In: Wirtschaftskurve 1936, S. 12 f: „Wenn die Spardepositen nicht abnehmen, sondern zunehmen, so folgt mit unverbrüchlicher Konsequenz, dass die Bankkredite von Unternehmern wachsen oder ihre Geschäftsdepositen abnehmen müssen. Nur wenn per Saldo in der Depression Nichtunternehmer ihre Ersparnisse aufzehrten, könnte sich die Liquidität der Unternehmungen bessern; nur soweit dies geschähe, wäre es möglich, dass auch Vorräte in der Wirtschaft mit Erfolg liquidiert werden könnten. Da es nun aber beobachtungs- und erfahrungsgemäß genau umgekehrt ist, da die Ersparnisse von Nichtunternehmern insgesamt noch wachsen, so ist von dieser Seite her nur noch eine weitere Illiquidisierung der Wirtschaft zu erwarten. Ja, darüber hinaus ist das Wachsen der Ersparnisse von Nichtunternehmern in der Depression Grund und Ausdruck von Kapitalverlusten der Unternehmungen.“

3 Wilhelm Lautenbach: Depositensparen & Bankenliquidität (PDF; 94 KB). In: Zins, Kredit und Produktion, S. 62: „Wenn die ersparten Beträge als Depositen bei den Banken gehalten werden, verschlechtert sich ceteris paribus die Liquidität [des Gesamtbankensystems]. Das Kreditvolumen wächst bei gleicher Kasse, so daß das Verhältnis von Gesamteinlagen zu Kasse sich verschlechtert. Denn hätten die Sparer nicht gespart, sondern ihr Einkommen verausgabt, so wären die Geldbeträge genau so nach Durchfluß durch den Einzelhandel unweigerlich im Kreislauf an die Banken gekommen; der Barmittelbestand der Banken wäre also der gleiche gewesen, das Kreditvolumen aber geringer, weil die zum Konsum verausgabten Beträge von Unternehmern vereinnahmt worden wären mit der Folge, daß ihr Kreditbedarf entsprechend geringer, ihr Umsatz aber höher gewesen wäre. Das ist ein nach jeder Richtung hin paradoxes Ergebnis. Verdienst, Liquidität und infolgedessen Neigung zu investieren, sind größer, wenn Lohn- und Gehaltsempfänger weniger sparen. Das Sparen erzeugt gerade erst Kreditbedarf bei verringertem Umsatz, umgekehrt wird, wenn Sparer frühere Ersparnisse verzehren, die Liquidität sowohl der Banken wie der Unternehmungen, gesteigert und zugleich das Unternehmereinkommen.“