Der Spreizeffekt unter den Unternehmen in der Rezession

Innerhalb des Jahresgutachtens 1966/67 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde erstmals durch Wolfgang Stützel auf den saldenmechanischen Spreizeffekt innerhalb des Unternehmenssektors in der Rezession hingewiesen.1 Das bedeutet, dass die größeren Unternehmen, die in der Rezession derart einzusparen beginnen und, um vorsichtshalber ihre Liquidität zu erhöhen, sogar Einnahmeüberschüsse bilden, andere (tendenziell kleinere) Unternehmen zur Erhöhung ihrer (geplanten) Ausgabenüberschüsse (Überschuldung) zwingen, sodass diese zuerst insolvent und in den Konkurs gedrängt werden.2

 

Verschärfend ist ja zu erkennen, dass diese kleineren Unternehmen, die in der Rezession einen erhöhten Kredit- bzw. Finanzierungsbedarf erfahren und aber nur über eingeschränkten Zugang zu Rekapitalisierungen am internationalen Kapitalmarkt verfügen, viel mehr von den Kreditlinien der Kreditinstitute abhängig sind. Da aber die Bonität gerade der kleinen und mittleren Unternehmen3 in der Rezession massiv sinkt, wird diesen gegenüber geringer (Durchhalte-)Kredit gewährt.

 

In diesem Zusammenhang erscheint die Forderung des heutigen Sachverständigenrats im Jahresgutachten 2013/14 überaus bedenklich: „Kleine und mittlere Unternehmen spielen in vielen Sektoren eine volkswirtschaftlich wichtige Rolle. Allerdings ist vor wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die pauschal das Ziel haben, die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen in unveränderter Höhe aufrecht zu erhalten, zu warnen, denn solche Maßnahmen könnten den notwendigen Strukturwandel aufhalten.“4

 

1a Reinhard Pohl: Geldtheoretische Analysen der deutschen Bundesbank als Elemente einer Strategie der Überredung. Berlin 1971, S. 79.

1b Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1966/67 (PDF; 6,9 MB), S. 97 f: „Nicht wenige Unternehmen bleiben dann [in konjunkturellen Abschwächungsphasen] mit ihren Ausgaben hinter ihren laufenden Einnahmen zurück, sind also Einnahmenüberschußbereiche. Das hat, von sonstigen Einflüssen abgesehen, zur Folge, daß sich die anderen Unternehmen, bei denen umgekehrte Verhältnisse vorliegen (Ausgabenüberschußbereiche), zur Aufrechterhaltung ihrer Liquidität desto stärker verschulden müssen. Ein Hinweis darauf, wie sich Einnahmenüberschußbereiche und Ausgabenüberschußbereiche innerhalb des Unternehmenssektors auseinanderentwickeln (Spreizeffekt) ergibt sich, wenn man den jährlichen Zuwachs der Nettoverschuldung des gesamten Unternehmenssektors mit der Zuwachs der Bruttoverschuldung vergleicht, der um die Geldvermögensbildung einzelner Unternehmen höher ist. So war etwa in den Jahren der scharfen Kreditrestriktion 1950/51, als viele Unternehmen Einnahmenüberschüsse bildeten, die Zunahme der Bruttoverschuldung der Unternehmen mehr als doppelt so groß wie die Nettoverschuldung [des Sektors].“

2 Gerhard Zweig: Logik der Finanzierungsrechnung. In: Währungsunion und Weltwirtschaft: Festschrift für Wilhelm Hankel. Stuttgart 1999, S. 438: „Dieser sogenannte Spreizeffekt kann in rezessiven Phasen zu einer verstärkten Konkursanfälligkeit kleiner und mittlerer Unternehmen führen [...].“

3 Laut Bundesverband der Deutschen Industrie (siehe auch BDI) sind 99,8 Prozent aller Unternehmen in der EU kleine- und mittlere Unternehmen.

4 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2013/14 (PDF; 5,9 MB), S. 218.